Wenn Komplexität die Entwicklung schachmatt setzt

Ingo Bögemann

Bis zu 20.000 Teile pro Anlage, weniger als 100 produzierte Anlagen pro Jahr, eine Lebensdauer im Markt von zum Teil mehr als 40 Jahren. So lesen sich die Kennwerte eines großen mittelständischen Systemanbieters im Anlagenbau der Lebensmittel verpackt. Ganz anders also als bei großen Autoproduzenten, die häufig im Zusammenhang mit Modulstrategien genannt werden. Daher lag beim Modularisierungsprojekts dieses Anlagenbauers der Fokus nicht auf den großen Skaleneffekte bei Beschaffungsmengen jenseits der 100.000.

Lesen Sie in diesem Case-Bericht, wie es einem mittelständischen Maschinenbauer gelungen ist, mit Hilfe eines modularen Baukastens schneller und kosteneffizienter zu entwickeln

Komplexität im Anlagenbau als Ausgangssituation

Das Unternehmen entwickelt, produziert und verkauft sowohl Anlagen als auch dazugehörige Verpackungen, die darauf verarbeitet werden. Teil des Geschäftsmodells ist es, nicht nur erfolgreiche Produkte auf den Markt zu bringen und zu vertreiben, sondern diese auch über lange Zeit dort zu halten, den Service zu liefern und kontinuierlich mit Verpackungsmaterial zu versorgen. Letzterer leistet einen größeren Gewinnbeitrag als der Verkauf der eigentlichen Maschinen. Ermöglicht wird das durch die regelmäßige Anpassung der Maschinen an den Stand der Technik sowie an die sich immer wieder ändernde Gesetzgebung für Lebensmittelproduktion – über die gesamte Lebenszeit der Maschinen von zum Teil 40 Jahren und mehr hinweg.

Genau in diesem Geschäftsmodell begründete sich die Herausforderung für die Entwicklungsabteilung: Deren Aufgaben umfassen neben der Entwicklung von neuen Produkten zu erheblichem Teil die Entwicklung von Upgrades sowie von Anpassungen für Maschinen im Markt. Grundsätzlich steigen die Aufwände für solche Anpassungen und Upgrades mit der Anzahl und der technischen Vielfalt der Maschinen. Gleichzeitig nehmen Anzahl als auch Vielfalt mit der Zeit kontinuierlich zu: Eine neue Maschinengeneration wird entwickelt, erprobt, produziert und an Kunden geliefert – und dies in unterschiedlichen funktionalen und länderspezifischen Varianten. Wie bei vielen Unternehmen drohte bei dem Anlagenhersteller die Komplexität überhand zu nehmen. Die Aufwände für die Entwicklung von Anpassungen und Upgrades beim dem Anlagenbauern hatten derart zugenommen, dass die Innovationsfähigkeit des Unternehmens gefährdet war. Kein Wunder: Wenn die Entwicklung ausschließlich mit der Betreuung der Vergangenheit beschäftigt ist, bleibt keine Zeit neue, innovative Produkte zu entwickeln. Es war klar, dass sich die Situation nur weiter verschärfen würde, wenn die Produktentwicklungsstrategie nicht grundlegend überdacht würde. Die Geschäftsführung sah sich zum Handeln gezwungen.

Leseempfehlung: Einen allgemeinen Überblick zum Thema Komplexität bietet Ihnen unser Blog-Artikel “Alles, was Sie zu Komplexität und Komplexitätskosten wissen müssen”.

Die Herausforderung

Doch wie kann es gelingen, den Kunden weiterhin neue und vielfältige Produkte anzubieten und gleichzeitig die technische Vielfalt in beherrschbaren Grenzen zu halten? Durch die Entwicklung und Umsetzung eines modularen Baukasten für die gesamte Produktfamilie können eine Vielzahl von Varianten für Kunden ermöglicht werden, die interne technische Vielfalt aber gleichzeitig reduziert werden.

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Um die externe Vielfalt für die Kunden zu wahren oder gar zu vergrößern und gleichzeitig die interne technische Vielfalt zu reduzieren, müssen methodisch beide Sichtweisen klar getrennt werden. Nur so kann die interne technische Vielfalt effektiv reduziert werden.

Schritt I – Analyse der kundenrelevanten externen Vielfalt

Bei der Analyse der externen Vielfalt werden die Eigenschaften aus Kundensicht identifiziert, anhand derer der Kunde sich für eine bestimmte Variante des Produktes entscheidet. Hierbei ist es wichtig, dass ausschließlich die Vielfalt aus Kundensicht betrachtet wird. Im Beispiel ist der Kunde daran interessiert, dass seine Anlage eine bestimmte stündliche Ausbringungsmenge leistet. Es ist für ihn nicht von direktem Interesse mit welcher technischen Lösung oder mit welcher Baugruppe dies realisiert wird.

Neben den aktuell angebotenen Wahlmöglichkeiten für verschiedene Eigenschaften darf der Blick in die Zukunft nicht vernachlässigt werden. Eine modulare Produktfamilie kann nur dann langfristig stabil sein, wenn kurz- und mittelfristige Veränderungen im angebotenen Portfolio berücksichtigt und vorgedacht werden. Auch wenn die Zukunft nicht zuverlässig vorhersagbar ist, kann durch das Einplanen zu erwartender Entwicklungen eine größere zeitliche Robustheit erreicht werden.

Im vorliegenden Beispiel wurden die zukünftigen Zielwerte für die Ausbringungsmenge der Maschine identifiziert. Diese hatten, wie sich später zeigte, entscheidenden Einfluss, da ab einem bestimmten Grenzwert eine grundlegend andere technische Lösung nötig wurde. Wäre dieser Einfluss nicht vorab identifiziert worden, hätte dies zu einer kompletten Neuentwicklung der Produktfamilie geführt.

Schritt II – Analyse der internen technischen Vielfalt

Dem Blick nach außen in die Welt der Kunden folgte der Blick nach innen in die technische Umsetzung der aktuellen Maschinengenerationen als Basis für die zu entwickelnde zukünftige Generation. In diesem zweiten Schritt wird das Produkt in Komponenten zerlegt und deren technische Variantenvielfalt erfasst. Die richtige Zerlegung ist hierbei entscheidend. Es müssen alle Varianten der Produktfamilie berücksichtigt werden, und es muss die richtige Granularität gefunden werden. Ist eine Zerlegung gefunden, kann für diese die Anzahl der existierenden Varianten auf Basis der aktuellen Maschinengeneration festgestellt werden. Dieser Ist-Zustand der technischen Vielfalt ist der Maßstab, an dem sich ein modulares zukünftiges Konzept messen muss.

Bei der Definition der richtigen Zerlegung kann es zu Iterationen kommen: Im hier beschriebenen Fall wurde zum Beispiel in einem ersten Schritt eine Baugruppe als Komponente definiert, deren Variantenvielfalt reduziert werden sollte. Bei der Analyse der Variantenvielfalt der aktuellen Maschinengeneration ergab sich eine große Anzahl von Varianten. Bei genauerem Stücklistenvergleich stellte sich jedoch heraus, dass alle diese Baugruppenvarianten auf Teileebene zu 95 Prozent identisch waren. Nur ein geringer Umfang von Bauteilen, die spezifisch für verschiedene Packungsgrößen waren, unterschied sich tatsächlich. Diese Erkenntnis führte dazu, die Hauptbaugruppe in zwei Komponenten zu zerlegen, von denen eine bereits nahezu standardisiert war. Die andere wies Varianten zur packungsspezifischen Anpassung auf.

Schritt III – Mapping der Interdependenzen zwischen externer und interner Vielfalt

Um die technische Vielfalt, die auf Komponentenebene gefunden wurde, zu verstehen, ist es notwendig die Einflüsse der externen Vielfalt aufzudecken. Die zugrundeliegende Frage hier: Wenn ich eine Kundeneigenschaft ändere, welchen Einfluss hat das auf die Komponenten und deren technische Merkmale? Zum Beispiel: Wie beeinflusst die Auswahl einer bestimmten Ausbringungsmenge (Kundeneigenschaft) die Leistung (technisches Merkmal) des Antriebsmotors (Komponente). Das Wissen über diese Zusammenhänge ist in der Regel in der Organisation vorhanden. Meist ist es jedoch nicht systematisch dokumentiert und transparent verfügbar. Der Mehrwert dieses Prozessschrittes liegt also nicht nur in der Vorbereitung einer modularen Produktfamilie, sondern ebenso im Beitrag zum Wissensmanagement der Entwicklung, da daraus eine formalisierte und transparente Dokumentation der Zusammenhänge zwischen angebotener Kundenvielfalt und technischer Vielfalt auf Komponentenebene entsteht. Schon bei der Erarbeitung dieser Dokumentation ergeben sich die ersten Ansatzpunkte für Verbesserungen.

So zeigte sich im hier beschriebenen Projektbeispiel, wer die Haupttreiber von technischer Vielfalt sind: die Form der Verpackung, die Grundfläche der Verpackung und die Eigenschaften des abzufüllenden Lebensmittels. Beispielsweise beeinflusste die Wahl der Verpackungsform die Geometrie der Faltklötze der Falteinheit. Eine Abhängigkeit, die logisch nachvollziehbar war. Es zeigte sich aber auch, dass bei unterschiedlichen zu verpackenden Lebensmitteln unterschiedliche Bauformen der Auswurfeinheit zum Einsatz kamen. Dies warf Fragen auf, da die Auswurfeinheit nur mit der äußeren Verpackung, nicht aber mit dem umschlossenen Lebensmittel, agierte.

Schritt IV – Variantenoptimierter Baukasten

Schon in Schritt III hatten sich durch die neu geschaffene Transparenz erste Ansatzpunkte zur Reduktion von Varianten ergeben. In diesem Schritt wird nun die Suche nach solchen Potenzialen zur Varianzreduktion intensiviert. Einige dieser Potenziale sind offensichtlich. Bei ihnen handelt es sich um unnötige Varianz, die sich im Laufe der Jahre durch parallele Entwicklungsprojekte, unzureichende Wiederverwendung vorhandener Lösungen oder durch mangelnde Transparenz und Kommunikation ergeben haben. Derartige Fälle sind in der Regel schnell zu identifizieren, da hier ein technisches Merkmal einer Komponente variant ist, ohne dass dies mit einer Kundeneigenschaft in Verbindung gebracht werden kann. Nachdem solche tiefhängenden Früchte identifiziert worden sind, wird das im vorherigen Schritt erarbeitete Produktwissen im Detail genutzt. Ziel ist es, mit konstruktiven Änderungen Komponenten von Kundeneigenschaften zu entkoppeln. Hierzu können als Anhaltspunkt eine Vielzahl von konstruktiven Maßnahmen zur Reduktion von Varianz genutzt werden, z.B. Vereinheitlichung von Schnittstellen, Überdimensionierung oder Veränderung von Materialien. Dabei wird im Detail geprüft, welche dieser konstruktiven Maßnahmen geeignet sind, um die Entkopplung zu erreichen. Das Ergebnis dieses Schrittes ist eine umfangreiche Sammlung von einzelnen Maßnahmen für einen variantenoptimierten Baukasten.

Für die Anlagen ergaben sich sofort umsetzbare Verbesserungen, beispielsweise die Nutzung der aktuellen Bauform der Auswurfeinheit für alle Maschinen. Diese war nur für einen bestimmten Maschinentyp geändert worden, ohne die Möglichkeit zu prüfen, die neue Variante als Standard für alle Maschinen zu verwenden. Ein weiteres Potenzial ergab sich aus der Standardisierung der Schmiereinheit. Diese wurde durch ein flexibles Schnittstellenkonzept und den Wechsel von Verrohrung zu Verschlauchung möglich. So konnte eine Standard-Schmiereinheit für Maschinen unterschiedlicher Größe mit unterschiedlichen Schmierpositionen verwendet werden.

Schritt V – Zusammenfassung zu Modulkonzepten und Bewertung

Nachdem in Schritt IV eine Vielzahl von einzelnen Potenzialen auf Komponentenebene identifiziert worden sind, erfolgt nun deren Zusammenfassung und Bewertung zu verschiedenen Gesamtkonzepten. Hierbei müssen neben den zu erreichenden Reduktionen von Varianten deren Effekte für alle anderen Anspruchsgruppen und Bereiche, wie Einkauf, Fertigung und Service abgefragt werden. Es muss sichergestellt sein, dass ein modulares Konzept für die zukünftige Produktfamilie für das Unternehmen als Ganzes positive Effekte hat und dass die zu Anfang des Projektes identifizierten strategischen Ziele erreicht werden.

Und im Ergebnis?

Bei der Entwicklung eines modularen Produktfamilienkonzepts für die Anlagen stand der Entwicklungsaufwand im Vordergrund. Es wurde ein Gesamtkonzept erstellt, dass ohne radikale technische Änderungen auskommt, da die Ausgangssituation bereits eine Überlastung der Entwicklungsabteilung war. Das Konzept umfasste die Standardisierung von 55 Prozent der Komponenten, was zu einer Reduktion der Gesamtkomponentenanzahl um 51 Prozent führte. Diese Zahlen sind vor dem Hintergrund der sehr langen Lebenszeit der Anlagen und der sich im Laufe der Zeit nötigen Anpassungen und Upgrades zu sehen. Die Reduktion der Teilevielfalt führte dazu, dass sich die zu erwartenden Aufwände verringerten, würde das modulare Konzept für die Produktfamilie konstruktiv umgesetzt. Diese Verringerung wurde mit minus 25 Prozent bei der initialen Entwicklung und minus 10 Prozent bei der Umsetzung von Änderungen über die Lebenszeit hinweg abgeschätzt.

Die Effekte des modularen Konzepts blieben jedoch nicht auf die Entwicklungsabteilung beschränkt. Die zu erwartenden Kosten für die Qualifikation eines neuen Verpackungsmaterials werden um 67 Prozent sinken. Die Einkaufskosten der nun standardisierten Komponenten können um bis zu 45% reduziert werden. Die Kosten für die Erstellung der Maschinendokumentation können um 20-30 Prozent vermindert werden.

Mit einem modularen Konzept für die nächste Generation der Anlagen konnte so die Herausforderung gemeistert werden, einerseits den Kunden neue innovative Produkte zu bieten und andererseits das Wachstum der technischen Vielfalt in Grenzen zu halten, die durch die Entwicklungsabteilung bewältigt werden muss.

Weil sich das Rad im Maschinen- und Anlagenbau immer schneller dreht, steht die Industrie unter einem enormen Innovations- und Zeitdruck. Lesen Sie hier mehr über die Herausforderungen, mehr Varianten in kürzerer Zeit entwickeln zu müssen und erfahren Sie, wie Sie diesen begegnen können.

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